Kapitel 1.
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Der Nebel über Aeloria
In den ersten Morgenstunden, als schüchterne Sonnenstrahlen die dichten Wälder Aelorias zu erhellen begannen, herrschte eine geheimnisumwobene Stille im Land. Ein zarter Nebel, gespeist von den unzähligen kleinen Bächen und Flüssen, die sich durch das satte Grün schlängelten, legte sich wie ein sanfter Schleier über die Landschaft und verlieh ihr einen fast surrealen Glanz. Die Luft war erfüllt vom Duft feuchter Erde und wilder Blumen, während irgendwo in der Ferne das leise Plätschern eines Baches zu hören war.
In dieser betörenden Kulisse, wo die Bäume in den Himmel zu wachsen schienen, lag ein malerisches Dorf. Die Häuser, robust aus behauenem Stein erbaut und mit dichten Strohdächern bedeckt, harmonierten perfekt mit ihrer natürlichen Umgebung. Aus den Schornsteinen kroch langsam der Rauch empor, während der Duft von frisch gebackenem Brot und sorgfältig zubereitetem Fleisch die Luft erfüllte.
Die Dorfbewohner, eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Leben eng mit dem Rhythmus der Natur verflochten hatten, waren bereits emsig bei der Arbeit. Die Bauern zogen aus, um ihre Felder zu bestellen, die Handwerker begannen in ihren Werkstätten mit dem Tagewerk, und die Kinder, in lebhafte Spiele vertieft, belebten die von Kopfstein gepflasterten Gassen mit ihrem Gelächter.
Doch dieser friedvolle Morgen wurde jäh unterbrochen, als ein kaum merkliches Grollen die Erde vibrieren ließ und die Dorfbewohner in Unruhe versetzte. Die Tiere in den Ställen wurden nervös, und sogar die Vögel, die sonst fröhlich in den Baumwipfeln sangen, verstummten abrupt.
Liora, am Rande des Dorfes stehend, wo die Zivilisation auf die unberührte Wildnis des geheimnisvollen Waldes traf, spürte die Veränderung sofort. Ihre athletische Gestalt, geprägt von der täglichen Arbeit in der Schmiede ihres Vaters und dem Training mit dem Schwert, strahlte eine anmutige, aber kraftvolle Präsenz aus. Ihr dunkles Haar, zu kunstvollen Zöpfen geflochten, umspielte ihre Schultern, während ihre tiefen Augen besorgt in Richtung des dunklen Waldes blickten.
„Liora!“, rief eine besorgte Stimme hinter ihr. Es war ihr Vater, der Schmied, dessen breite Schultern und kräftige Hände von harter Arbeit zeugten. „Was denkst du, ist dort draußen?“
Sie drehte sich um, ihr Blick fest und entschlossen. „Ich weiß es nicht, Vater“, antwortete sie, ihre Stimme ruhig, aber voller Sorge. „Aber ich werde es herausfinden. Etwas stimmt nicht, und ich spüre, dass es unsere Hilfe braucht.“
Ohne weitere Worte schnallte sie den Gürtel fester, an dem ihr kurzes Schwert hing, und machte sich auf den Weg in den Wald, gefolgt von den besorgten Blicken der Dorfbewohner.
Der Wald empfing sie mit einem kühlen Hauch und dem leisen Rascheln des Laubs unter ihren Füßen. Mit jedem Schritt tiefer in das Dickicht spürte Liora, wie die Atmosphäre sich verdichtete, der Nebel dichter wurde und die Stille fast greifbar war. Doch sie ließ sich nicht beirren; ihr Schritt war fest, ihr Blick unerschütterlich auf das Ziel gerichtet.
Plötzlich brach das Grollen erneut durch die Stille, diesmal lauter und näher. Liora hielt inne, lauschte und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Doch ihre Entschlossenheit wankte nicht. Mit einem tiefen Atemzug schritt sie voran, entschlossen, dem Ursprung des Bebens auf den Grund zu gehen.
Mit gezogenem Schwert schritt sie voran, bis sie an eine Lichtung kam, die vom Nebel wie von einem Vorhang umhüllt war.
Inmitten der Lichtung, umgeben von einem Kreis alter, ehrwürdiger Bäume, lag ein Drache. Sein massiger Körper war von schimmernden Schuppen bedeckt, die im schwachen Licht wie Edelsteine glänzten. Eine klaffende Wunde an seiner Seite zeugte von einem heftigen Kampf, und sein Atem war schwer und gequält.
Liora hielt den Atem an, überwältigt von der majestätischen Präsenz des Geschöpfes. Trotz der Furcht, die sich in ihrem Herzen regte, spürte sie auch eine tiefe Empathie für das verletzte Wesen.
„Fürchte dich nicht“, sagte sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, doch fest in ihrer Entschlossenheit. „Ich werde dir nicht schaden.“
Der Drache hob langsam seinen Kopf, seine Augen, tief und durchdringend, fixierten sie. In diesem Blick lag eine uralte Weisheit und ein tiefes Leid.
Liora trat vorsichtig näher, das Schwert gesenkt, und streckte ihre Hand aus. Sie murmelte Worte in der alten Sprache, die ihre Mutter ihr gelehrt hatte, eine Sprache, die so alt war wie der Wald selbst und die Magie barg.
Als sie ihre Hände über die Wunde hielt, begann ein sanftes Leuchten, das von ihren Fingern ausging und die Dunkelheit um sie herum zu durchbrechen schien. Die Worte, die sie sprach, waren voller Kraft und Hoffnung, und mit jedem Vers, den sie flüsterte, begann die Wunde sich zu schließen, die Dunkelheit zu weichen.
Der Drache stieß einen tiefen Seufzer aus, der fast wie ein Dank klang, und langsam, sehr langsam, begann seine Kraft zurückzukehren. Liora spürte, wie ihre eigene Energie nachließ, doch die Gewissheit, das Richtige zu tun, erfüllte sie mit einer tiefen Zufriedenheit.
Als die Heilung vollbracht war, sank sie erschöpft zu Boden, ihr Blick immer noch auf den Drachen gerichtet, der nun ruhiger atmete. Eine stille Verbindung schien sich zwischen ihnen gebildet zu haben, ein ungesprochenes Verständnis, das in diesem Moment der Stille und des Friedens geboren wurde.
„Danke“, flüsterte sie, ihre Stimme erfüllt von Ehrfurcht und Bewunderung für das mächtige Wesen vor ihr.
Der Drache erhob sich langsam, seine Wunden geheilt, und mit einem letzten, tiefen Blick auf Liora, der so viel sagte, ohne Worte zu benötigen, erhob er sich majestätisch in die Lüfte und verschwand in den Nebeln des Morgens.
Liora blieb einen Moment lang regungslos sitzen, überwältigt von dem, was geschehen war. Dann, mit einer neuen Entschlossenheit in ihrem Herzen, stand sie auf und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf, bereit, den Dorfbewohnern von ihrer unglaublichen Begegnung zu berichten und sich den Herausforderungen zu stellen, die noch vor ihr lagen. Denn sie wusste jetzt, dass ihre Reise gerade erst begonnen hatte.
Zurück im Dorf wurde Liora von den besorgten Dorfbewohnern empfangen, die sich am Rande des Waldes versammelt hatten, um auf ihre Rückkehr zu warten. Ihr Vater trat sofort an ihre Seite, seine Augen voller Fragen und Sorge.
„Liora, was ist geschehen? Du bist so blass“, sagte er, seine Stimme zitterte vor Besorgnis.
Sie lächelte müde und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ich bin in Ordnung, Vater. Ich habe etwas Unglaubliches erlebt.“
Die Dorfbewohner drängten sich näher heran, gehüllt in die wärmenden Strahlen der aufgehenden Sonne, die den Nebel langsam vertrieb. Liora erzählte ihnen von der Lichtung, dem verletzten Drachen und wie sie es gewagt hatte, sich ihm zu nähern und seine Wunden zu heilen. Ihre Worte malten ein lebendiges Bild der Begegnung, und mit jedem Satz wich die Sorge aus den Gesichtern der Zuhörer, machte Platz für Staunen und Bewunderung.
„Das ist eine Tapferkeit, wie wir sie selten gesehen haben“, sagte der Älteste des Dorfes, seine Stimme erfüllt von Respekt. „Du hast das Herz eines wahren Heldin, Liora.“
Als die Sonne höher stieg und ihr Licht die letzten Schatten des Morgens vertrieb, versammelten sich die Dorfbewohner um Liora, getragen von einem neuen Gefühl der Hoffnung und Einheit. Sie erkannten, dass in ihrer Mitte eine außergewöhnliche junge Frau lebte, deren Mut und Güte sie alle inspirierte.
In den folgenden Tagen breitete sich die Kunde von Lioras Tat weit über die Grenzen des Dorfes hinaus aus. Boten wurden in benachbarte Dörfer und Städte gesandt, um von der jungen Frau zu berichten, die es gewagt hatte, einem Drachen zu helfen und ihn zu heilen.
Und während Liora in der Schmiede ihres Vaters arbeitete, an ihrer Seite und im Gespräch mit den Dorfbewohnern, spürte sie, wie sich etwas in ihr veränderte. Die Begegnung mit dem Drachen hatte nicht nur ihre Sicht auf die Welt verändert, sondern auch die Art und Weise, wie sie ihre eigene Rolle darin sah.
Eines Morgens, als der Nebel erneut über den Wäldern von Aeloria lag, stand Liora am Rande des Dorfes und blickte in die Ferne. Sie wusste, dass ihre Reise noch lange nicht zu Ende war. Es gab noch so viel zu entdecken, so viele Geheimnisse zu lüften und Herausforderungen zu meistern.
Mit einem tiefen Atemzug fasste sie einen Entschluss. Sie würde Aeloria verlassen, um mehr über die Mächte zu erfahren, die ihre Welt formten, und um zu verstehen, wie sie ihre eigenen Fähigkeiten zum Wohle aller einsetzen konnte.
Ihr Vater trat neben sie, seinen Blick ebenfalls in die Ferne gerichtet. „Du bist bereit, nicht wahr?“, fragte er, seine Stimme voller Stolz.
Liora nickte, ihre Augen leuchteten vor Entschlossenheit. „Ja, Vater. Es ist Zeit.“
Gemeinsam kehrten sie ins Dorf zurück, bereit, die Vorbereitungen für Lioras Reise zu treffen. Eine Reise, die sie nicht nur in unbekannte Länder führen würde, sondern auch tiefer in die Geheimnisse ihres eigenen Herzens und der magischen Welt, die sie ihr Zuhause nannte.
Die Vorbereitungen für Lioras Reise wurden mit größter Sorgfalt und Aufmerksamkeit getroffen. Ihr Vater, der Schmied, schmiedete für sie eine Rüstung, die leicht genug war, um ihr Bewegungsfreiheit zu lassen, und dennoch stark genug, um sie zu schützen. Er verzierte sie mit Symbolen, die für Mut, Weisheit und Schutz standen, in der Hoffnung, dass sie Liora auf ihrer Reise begleiten würden.
Die Dorfbewohner kamen zusammen, um Proviant, Heilmittel und andere notwendige Utensilien zu sammeln. Jeder wollte auf seine Weise beitragen, sei es durch praktische Gaben oder durch Worte des Rates und der Ermutigung. Liora fühlte sich durch diese Gesten der Gemeinschaft tief berührt und wusste, dass sie diese Verbundenheit in ihrem Herzen tragen würde, egal wohin ihre Reise sie führen würde.
Am Vorabend ihrer Abreise versammelte sich das ganze Dorf um ein großes Lagerfeuer. Die Flammen leuchteten in den Nachtstunden und warfen ein warmes Licht auf die Gesichter der Menschen, die Liora in all den Jahren ihres Lebens begleitet hatten. Es wurde gesungen und Geschichten erzählt, viele von ihnen handelten von Abenteuern und Helden, die gegen große Widerstände ankämpften und siegten.
Als die Sterne am Himmel erschienen und die Geschichten zu Ende erzählt waren, trat der Älteste des Dorfes vor. In seinen Händen hielt er einen alten, mit Symbolen verzierten Stab, der seit Generationen von den Weisen des Dorfes weitergegeben wurde.
„Liora“, begann er, seine Stimme klar und kraftvoll in der nächtlichen Stille. „Du stehst vor einer Reise, die nicht nur deinen Mut, sondern auch dein Herz und deinen Geist fordern wird. Nimm diesen Stab als Zeichen unserer Unterstützung und als Erinnerung daran, dass du niemals allein bist.“
Mit zitternden Händen nahm Liora den Stab entgegen. In diesem Moment fühlte sie die Last, aber auch die Ehre, die ihre Reise mit sich brachte. Sie wusste, dass die Erwartungen an sie hoch waren, doch in ihrem Herzen brannte ein Feuer, das von keiner Dunkelheit erstickt werden konnte.
Am nächsten Morgen, als die ersten Strahlen der Sonne den Nebel durchbrachen und die Welt in ein sanftes Licht tauchten, machte sich Liora auf den Weg. Ihr Herz war schwer vom Abschied, aber ihre Schritte waren fest und entschlossen.
Die Reise führte sie durch die dichten Wälder von Aeloria, über sanfte Hügel und weite Ebenen. Sie begegnete Reisenden und Händlern, hörte ihre Geschichten und lernte von ihren Erfahrungen. Jeder Tag brachte neue Herausforderungen, aber auch neue Erkenntnisse über die Welt und ihre eigenen Fähigkeiten.
Während sie weiterzog, spürte Liora, wie sich die Landschaft veränderte. Die Wälder wurden lichter, die Luft kühler, und bald fand sie sich am Rande eines großen Gebirges wieder. Die majestätischen Gipfel erhoben sich vor ihr, als wären sie die Wächter alter Geheimnisse. Ein leichter Wind, der die Schneekappen der höchsten Gipfel streifte, brachte eine frische, klare Brise mit sich, die Liora tief einatmete. Es war, als würde sie nicht nur die Luft, sondern auch die Geschichten und Legenden einatmen, die in den Steinen und Winden dieser alten Berge verweilten.
Mit jedem Schritt, den sie auf den schmalen Pfaden, die sich um die Hänge schlängelten, vorwärtstastete, fühlte sie, wie die Verbindung zu dem Land unter ihren Füßen stärker wurde. Sie begegnete Reisenden, Händlern und gelegentlich Einsiedlern, die in den abgelegenen Tälern und Höhlen ihr Dasein fristeten. Von ihnen lernte sie die Geschichten der Berge kennen, von verborgenen Tälern, reich an unentdeckten Kräutern und Pflanzen, und von geheimnisvollen Kreaturen, die in den schneebedeckten Höhen ihr Zuhause hatten.
Eines Abends, als die Sonne hinter den Bergen versank und die Welt in ein weiches, goldenes Licht tauchte, erreichte Liora eine kleine Siedlung, die sich an die Seite eines sanften Hügels schmiegte. Die Menschen dort empfingen sie mit offenen Armen, fasziniert von den Geschichten der jungen Frau, die einem Drachen das Leben gerettet hatte und nun auf der Suche nach Wissen und Weisheit war.
In der Wärme einer kleinen, gemütlichen Taverne, umgeben von den neugierigen und freundlichen Gesichtern der Dorfbewohner, erzählte Liora von ihren Abenteuern, ihren Begegnungen im Wald von Aeloria und ihrem Entschluss, die Geheimnisse der Magie zu ergründen. Ihre Worte weckten in den Zuhörern eine Mischung aus Staunen und Hoffnung, und viele erzählten im Gegenzug ihre eigenen Geschichten, von den kleinen Wundern und den großen Mysterien, die die Berge verbargen.
In jener Nacht, unter dem Sternenhimmel, der sich weit und klar über ihr ausbreitete, fühlte sich Liora mit der Welt um sie herum verbunden wie nie zuvor. Die Geschichten der Dorfbewohner, die unermessliche Weite des Himmels und die stille Kraft der Berge erfüllten sie mit einer tiefen Ruhe und gleichzeitig mit einer brennenden Neugier, weiterzuziehen, mehr zu entdecken und zu lernen.